Leseprobe: Im Labyrinth der Türen

Sofort befahl ich mich selbst zur Ruhe, doch als meine Gedanken sich einfach nicht von unserem bevorstehenden Unheil entfernen wollten, gestand ich mir selbst endlich ein, dass ich doch an meine eigene Geschichte glaubte.

Es hatte keinen Sinn, sich dagegen zu wehren.

Wem wollte ich etwas vormachen?

Es passte einfach viel zu gut, als dass ich nicht daran hätte glauben können.

Langsam kroch wieder die bis eben noch so gut ignorierte Angst in mir hoch, als hätte sie nur darauf gewartet, dass ich endlich ehrlich zu mir selbst sein würde. Ich musste mich wirklich konzentrieren, um zu verhindern, dass meine Hände haltlos zitterten. Ich würde in diesem Haus definitiv keine einzige Sekunde schlafen können.

„Ich habe zwei Zimmer fertig gemacht“, teilte uns plötzlich eine tiefe, raue Stimme mit und ich zuckte überrascht zusammen.

Schnell drehte ich mich um und sah direkt in die kalten Augen des alten Mannes. Herbert, verbesserte ich mich selbst.

Wunderbar, das Grauen hatte einen Namen.

Ich musste mich wirklich zusammennehmen, um nicht einfach mit dem Stuhl ein Stück weg zu rücken, damit ich ihm nicht mehr so nahe war. Es dauerte einen Moment, bis ich verstanden hatte, was Herbert gerade gesagt hatte, und als es mir bewusstwurde, kreuzte sich Fabians Blick mit meinem. Das klärte immerhin die Frage, mit wem ich mir das Zimmer teilen würde.

„Ich schlafe bei Anna!“, kam es wie aus der Pistole geschossen von ihm, als hätte er Angst, dass unsere Eltern sich darum reißen würden, mit mir in einem Zimmer zu schlafen.

Das schien jedoch Mamas geringste Sorge zu sein. Sie lächelte so glücklich, als wäre einer ihrer schönsten Träume wahr geworden. Allein das ließ mich innerlich schon gegen Fabians Wunsch aufbegehren, doch ich verkniff mir jeden Widerspruch.

Fabian war im Moment wirklich mein einziger Verbündeter.

„Es ist schon spät“, bemerkte plötzlich die ältere Frau, von der ich den Namen noch immer nicht wusste. „Ihr solltet euch langsam schlafen legen, damit ihr morgen früh aufstehen könnt.“

Ich musste mir eingestehen, dass ich den Namen der Frau eigentlich gar nicht wissen wollte. So blieb sie wenigstens ein Mysterium, vor dem man sich in Acht nehmen konnte. Herbert dagegen schien mir beinahe menschlich zu werden, jetzt, wo ich seinen Namen kannte.

Nein, manche Dinge sollte man besser nicht wissen.

Kurz darauf führte Herbert uns in den ersten Stock und zeigte auf die zweite Tür des Ganges auf der rechten Seite und die dahinter. Das würden also unsere Zimmer werden.

Bevor mich jedoch wieder Angst übermannen konnte, entdeckte ich am Ende des Ganges eine Standuhr. Keine gewöhnliche Uhr, denn diese reichte beinahe bis zur Decke und schien vor mehreren hundert Jahren gebaut worden zu sein. Das Pendel in ihrem Inneren tickte leise und stetig und seltsamerweise beruhigte mich dieser Klang.

„Wir nehmen das hintere Zimmer“, bestimmte ich plötzlich aus einem Impuls heraus. Ich hegte die leise Hoffnung, dass man das Ticken der alten Uhr auch noch in diesem Zimmer hören konnte und das würde mich vielleicht endlich dazu bringen, mich wirklich zu beruhigen und meine albernen Gedanken beiseitelassen zu können.

Unsere Eltern hatten nichts einzuwenden und so schnappte ich mir schnell Fabians Hand und ging mit ihm in unser Zimmer, bevor Herbert noch auf die Idee kommen konnte, uns führen zu wollen. Je weniger Zeit ich in seiner Nähe verbringen musste, desto besser für meine Nerven.

Das Zimmer, das ich uns ausgesucht hatte, war schlicht eingerichtet und ich nahm an, dass so auch alle anderen Zimmer aussehen mussten. Der Dielenboden war mit einem flauschig wirkenden, weißen Teppich ausgelegt und die Wände mit einer schlichten, gelblichen Tapete verziert. Eine kleine hölzerne Kommode und zwei kleine Nachtschränke waren die einzigen anderen Möbel im Zimmer. Abgesehen natürlich von dem großen Doppelbett, das mich leise aufseufzen ließ.

Jetzt musste ich mir mit Fabian auch noch ein Bett teilen!

Ich warf Fabian einen kurzen Blick zu und war seltsam erleichtert, in seinem Gesicht denselben Unwillen zu sehen, der sich wohl auch auf meinem spiegelte.

Schließlich zuckte ich mit den Schultern, kletterte auf das überraschend weiche Bett und machte es mir auf der einen Seite im Sitzen gemütlich. Ich hatte mir ja geschworen, in diesem Haus keine Sekunde zu schlafen.

Kurz zögerte Fabian noch, bevor er schließlich auf der anderen Seite ins Bett kletterte und sich unter die Decke kuschelte, als hätte er wirklich vor, hier seelenruhig zu schlafen. Nur die Tatsache, dass seine Augen die ganze Zeit offen blieben, machte mir klar, dass nicht nur ich eine schlaflose Nacht vor mir hatte. Ab und an spürte ich förmlich, wie Fabian mir einen Blick zuwarf und ich konnte mir fast denken, um was es ging. Er würde am liebsten wieder eine Geschichte von mir hören, doch ich wusste, dass er mich mindestens aus zwei Gründen nicht danach fragen würde. Erstens, weil er Geschichten immer zum Einschlafen hörte und er hier definitiv nicht schlafen wollte. Und zweitens, weil die letzte Geschichte, die ich ihm erzählt hatte, auf so seltsame Weise wahr zu werden schien. Wahrscheinlich fragte er sich das Gleiche wie ich. Würden wir diese Nacht überleben? Oder sahen wir beide Dinge, die eigentlich gar nicht da waren? Hatten wir völlig umsonst solche Angst?

Plötzlich dröhnte ein lauter Gong durch die Wand und ich zuckte zusammen. Kurz war es wieder still und ich bemerkte, dass Fabian sich kerzengerade aufgesetzt hatte. Dann ertönte wieder dieser dumpfe Gong. Ich musste nicht lange überlegen, um zu wissen, was es war. Die große Standuhr. Noch zehn Mal ertönte das laute Geräusch, bevor wieder alles still wurde.

Fast zu still.

Es war Mitternacht.

Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt und mir wurde bewusst, dass ich wartete. Ich wartete darauf, dass etwas passieren würde, doch die Sekunden verstrichen, wurden zu Minuten und nichts rührte sich im Haus. Ich hörte mich selbst erleichtert ausatmen und nur einen kurzen Augenblick später hörte ich dasselbe Geräusch von Fabian.

Plötzlich konnte ich nicht mehr an mich halten und prustete los.

Ich konnte nicht anders, ich lachte aus vollem Hals. Über meine eigene Angst, über Fabians verdutzten Gesichtsausdruck und über meine erfundene Geschichte. Ich lachte, bis mein Bauch weh tat und mir die Tränen in die Augen traten. Und als ich mich einige Zeit später endlich wieder beruhigt hatte, fühlte ich mich zum ersten Mal wirklich entspannter.

Es war nichts passiert und es würde auch weiter nichts passieren. Das schien auch Fabian klar zu werden, denn kurz zögerte er noch, wand sich sichtlich, doch bevor ich fragen konnte, was los war, stand er schon auf und schlich sich zur Tür. Er warf mir schnell einen doch etwas unsicher wirkenden Blick zu.

„Ich geh nur kurz auf Toilette“, murmelte er und öffnete die Tür einen Spalt breit, lugte nach links und rechts, als erwartete er, dass sich etwas auf ihn stürzen würde. Als jedoch noch immer nichts geschah, warf er mir ein kurzes Lächeln zu und schlüpfte in den Gang hinaus. Die Tür schloss sich beinahe geräuschlos hinter ihm.

Jetzt wurde ich doch wieder unruhig. War meine Geschichte nicht genauso weiter gegangen? Der Jüngste verließ das Zimmer und kam nie wieder zurück? Wieder versuchte ich, mich selbst zur Ruhe zu zwingen. Trotz der vielen Parallelen zu meiner Geschichte war noch nichts Schlimmes passiert. Aber in meiner Geschichte war es doch genauso gewesen. Erst nach Mitternacht erschien das Böse.

Ich zwang mich zu warten, ob Fabian wiederkommen würde, doch die Minuten vergingen und keine Schritte waren auf dem Flur zu hören, kein Flüstern, nichts.

Als nach meiner Uhr fast zwanzig Minuten vergangen waren, schluckte ich schließlich meine Angst herunter, zumindest so gut es ging, schlüpfte aus dem Bett und schlich zur Tür. Der Teppich verschluckte jedes Geräusch, das meine nackten Füße auf den Holzdielen gemacht hätten. An der Tür angekommen, ließ ich es mir nicht nehmen und legte ein Ohr an das kühle Holz, um zu lauschen. Auf Schritte. Ein Lachen. Irgendetwas, das mir sagte, dass Fabian mich nur veralberte.

Oder auf ein Knurren.

Auch, wenn ich es selbst kaum glauben konnte.

Doch es war nichts zu hören.

Bevor mich der Mut verlassen konnte, griff ich nach der Türklinke und zog die Tür mit einem Ruck ganz auf. Ich hegte noch immer die Hoffnung, dass Fabian sich deswegen zu Tode erschrecken würde. Als ich jedoch sah, was hinter der Tür lag, was ich anstatt des Flures vor mir sah, verschlug es mir den Atem.

Das war doch nicht möglich!